Die Strukturen für den Kinderschutz in Deutschland müssen endlich tragfähig ausgebaut werden – der Meinung ist Prof. Dr. Marlies Kroetsch, Hochschullehrerin für Soziale Arbeit an der Fachhochschule des Mittelstands (FHM). Die 41-jährige Expertin weiß, wovon sie spricht: Seit fast 20 Jahren ist sie im Bereich der Sozialwissenschaften tätig, unter anderem als Bildungsreferentin beim Deutschen Kinderschutzbund Landesverband Niedersachsen. e.V., wo sie als Präventionsstelle Kinderschutz-Konzepte entwickelte und sich dafür einsetzte, die Rechte von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen zu stärken.
Prof. Dr. Marlies Kroetsch: „Die Studienlage ließ die Zunahme an Gewalt gegen Kinder auch in der Corona-Pandemie früh vermuten. Internationale Studien zeigen, dass in Krisen das Risiko für Kindesmisshandlungen auch nach Krisenende steigt.“ Die Belastungen der Kinder während der Corona-Pandemie seien von Beginn an vielfältig gewesen – und das, obwohl die Zahlen der Fälle, die bei den Jugendämtern seit März 2020 aufliefen, zunächst teilweise sogar einen Rückgang der Fallzahlen zu Kindeswohl-Gefährdungseinschätzungen gezeigt hatten. „Dies lag vor allem an den veränderten Meldewegen“, so die Expertin. „Gemeldet wird meistens über Schulen und Betreuungseinrichtungen – aber wer übernimmt das, wenn diese geschlossen sind? Dieser Fakt wurde nicht berücksichtigt.“
Studien zeigen Handlungsbedarf
Verschiedene deutsche Studien konnten seit Beginn der einschränkenden Maßnahmen die Auswirkungen auf die Kinder aufzeigen. „Die Eltern sind durch die eigenen Belastungen in der Erziehungsfähigkeit eingeschränkt“, so Marlies Kroetsch. „Das betrifft insbesondere Kinder, die schon vor der Pandemie durch familiäre Situationen belastet waren – diese leiden nun verstärkt“, Die medizinische Kinderschutz-Hotline habe bei einzelnen Kindern massivere Verletzungen vermeldet, auch Beratungsstellen wiesen eine deutlich erhöhte Nachfrage auf.
Die Expertin warnt: „Die aktuellen Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik des BKA (PKS) zeigen die Fortschreitung einer dramatischen Entwicklung. Für sexuelle Gewalt gegen Kinder zeigt sich, dass sich der Trend der jährlich steigenden Fallzahlen auf einem hohen Niveau weiter fortsetzt. Verzeichnet ist eine deutliche Zunahme von 53 Prozent bei der Verbreitung, dem Erwerb, dem Besitz und der Herstellung von sexuellen Missbrauchsabbildungen sowie eine erhöhte Fallzahl an Tötungsdelikten an Kindern im Jahr 2020.“
Corona-Krise nicht alleiniger Auslöser
Die Zahlen müssten gerade für die öffentliche Wahrnehmung jedoch differenziert betrachtet werden, man dürfe nicht nur die Corona-Krise als Auslöser sehen: „Kindesmisshandlungen sind nach einem leichten Rückgang 2019 im Jahr 2020 nun wieder gestiegen – das stimmt. Für den Anstieg der Zahlen von Gewalt gegen Kinder sind aber vielfältige Ursachen auch jenseits der Pandemie zu vermuten, die Diskussion der Zahlen muss differenziert vorgenommen werden.“ So zeigten die offiziellen Zahlen nur das Hellfeld, während die Dunkelziffer bereits in der Vergangenheit für einige der Deliktsbereiche deutlich höhere Zahlen vermuten ließ. „Es braucht in Deutschland eine verlässliche Datengrundlage der Gewalt gegen Kinder, die zuverlässig auch das Dunkelfeld einschließt“, fordert die Expertin.
Forderung nach Post-Corona-Kinder- und Jugendhilfefond
So brauche die Kinder- und Jugendhilfe einen strukturellen Ausbau: „Die langfristigen Folgen müssen für das System der Kinder- und Jugendhilfe, die in weiten Teilen seit Jahren an ihren Grenzen arbeitet, klar benannt werden. Die Kinder- und Jugendhilfe muss aufzeigen, welche Folgen eine weitere Vernachlässigung des Kinderschutzsystems gesamtgesellschaftlich hat“, so Prof. Dr. Marlies Kroetsch. Sie unterstreicht deshalb die Forderung des „Instituts für sozialpädagogische Forschung Mainz“ nach einem finanzstarken post-Corona Kinder- und Jugendhilfefond in den Jahren 2022 bis 2027: „Die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe müssen als Experten/-innen wahrgenommen werden, die wissen, wie sich die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie auf Kinder und deren Familien auswirken. Genau hier liegt meiner Meinung nach die Expertise, die den Kinderschutz wirksamer ausgestalten kann.“
Seit Anfang 2019 unterrichtet Prof. Dr. Marlies Kroetsch in den Studiengängen B.A. Soziale Arbeit und Management sowie B.A. Sozialpädagogik und Management an der Fachhochschule des Mittelstands in Hannover und gibt so ihre Erfahrungen und Expertise an zukünftige Fach- und Führungskräfte weiter.
Prof. Dr. Marlies Kroetsch ist als Expertin gefragt und hat am 11. Mai 2021 einen viel beachteten Online-Fachvortrag an der FHM mit dem Titel „Professioneller Kinderschutz -Eine Frage der Systemrelevanz?!“ gehalten.
Anbei ihre nächsten geplanten Veröffentlichungen zu diesem Thema:
- Kroetsch, M. Die Bedeutung von Kinder- und Jugendbeteiligung für einrichtungsspezifischen Kinderschutz. In: Blätter der Wohlfahrtspflege 05/2021 (in Veröffentlichung)
- Kroetsch, M. & Minar, U. (2021): Kinderschutz-Konzepte in Kitas tragfähig und nachhaltig erarbeiten. In: Kita Aktuell Recht (in Veröffentlichung)
- Kroetsch, M. & Minar, U.: Stärkung der Kinderrechte durch Kinderschutz-Konzepte in der Kita. Zur Bedeutung einer partizipativen Haltung der begleitenden Fachkräfte. In: Oswald, C. u.a. (Hrsg.): Beltz Juventa (noch unveröffentlicht).